ABC-Kalender November 2017: Wa(h)re Lügen

„Is truth dead?“ fragte Time vor einigen Monaten auf seinem Titel. Es ist unschwer zu erraten, welchen Lügenbaron das US-Magazin dabei im Sinn hatte. Es geht um Wahrheit und Lügen, Fakten und subjektive Gefühlslagen. Die Medaille hat zwei Seiten: auf der einen Seite stehen die „Lügenpresse“-Vorwürfe gegenüber den Medien, auf der anderen Seite die Unwahrheiten, die heutzutage vor allem über Social Media in Windeseile von jedem aufmerksamkeitsstark verbreitet werden können.

Demokratisches Lebenselixier

„Lügenpresse“ ist ein beinahe 200 Jahre alter Begriff, der seit wenigen Jahren seinen vierten Frühling erlebt. Ein enger Verwandter der Lügenpresse sind die „Fake News“. Doch während sich erstere per definitionem nur gegen die Institutionen des Journalismus und der Medienbranche richtet, kann jeder von uns im Handumdrehen ganz einfach selbst zum Fake News-Produzenten werden. Ich behaupte einfach irgendwas, streue es über Facebook, Twitter, Instagram oder andere Plattformen – und es ist so lange wahr, bis jemand das Gegenteil beweist. In einer demokratischen Gesellschaft erfüllen die Medien daher lebensnotwendige Schlüsselfunktionen – und zwar unabhängig vom Kanal, egal ob analog oder digital, gedruckt oder bewegt. Die Medien informieren uns über alle möglichen Ereignisse, über politische Programme, Personen, Prozesse. Dadurch ermöglichen sie jedem von uns, sich eine – idealerweise fundierte – Meinung zu jedem nur denkbaren Gegenstand zu bilden. Die Vielfalt der heutigen Medienlandschaft stellt sicher, dass nicht nur stimmgewaltige Mehrheiten zu Wort kommen, sondern sich jede Position Gehör verschaffen kann. Schließlich erfüllen Journalisten auch eine Kontrollfunktion, indem sie Missstände recherchieren, publik machen – und damit ein Stück zu deren Bekämpfung beitragen. So weit, so gut.

Auf der Suche nach der Wahrheit

In Zeiten von „Lügenpresse“-Vorwürfen und Fake-News-Flutwellen ist das Vertrauen vieler Menschen in die Medien jedoch ernsthaft angekratzt. Viele wissen nicht mehr, was oder wem sie glauben sollen. Durch die digitale Transformation ist inzwischen jeder in der Lage, immer und überall „content“ zu produzieren und zu verbreiten. Die Verifizierung von Informationen und vermeintlichen Fakten ist deswegen heute wichtiger denn je. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) zum Beispiel hat im Juli 2017 eine neue Position geschaffen: den Verification Officer. Er ist Teil der ebenfalls neuen Faktencheck-Einheit, die quer durch alle Redaktionen Fakten überprüfen und Manipulationen offenlegen soll. Der „Spiegel“ leistet sich eine rund 70-köpfige Dokumentations-Abteilung, die nichts anderes tut, als die Beiträge der Redakteure zu überprüfen und „wasserdicht“ zu machen: Fakten, Quellen, Namen. Professionell orchestrierte Lügen sind scheinbar zu einer Ware geworden, die nicht nur in Wahlkämpfen signifikanten Schaden anrichten kann und gegen die man ebenso professionell vorgehen muss.

Natürlich ist Medienkritik erlaubt und sogar notwendig. Die Journalisten erfüllen zwar eine Watchdog-Funktion, gleichwohl sind die von ihnen transportierten Inhalte und Botschaften vom Empfänger stets zu reflektieren und abzuwägen. Der erste Schritt dazu ist, sich aus möglichst vielen unterschiedlichen Quellen zu informieren. Wir alle kämen jedoch in Teufels Küche, würden wir den elementaren Wert der Medien grundsätzlich anzweifeln und glauben, es ginge auch ohne qualitativ hochwertigen Journalismus. Alleine mit Do-it-yourself-Journalisten, die sich ihre eigenen Realitäten basteln, kann keine liberale demokratische Gesellschaft bestehen. Lassen Sie uns in, über und mit den Medien streiten – und zwar faktenbasiert, aufrichtig und konstruktiv.