ABC-Kalender Mai 2017: Offenes Netz, geschlossenes Weltbild

Kommunikationsagentur Wiesbaden

„Toleranz“, vom lateinischen tolerare für „erdulden“, bezeichnet allgemein das Gelten- und Gewährenlassen fremder Überzeugungen, Handlungsweisen und Sitten. Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste, dass Toleranz eigentlich nur ein Zwischenschritt sein kann, der letztlich zur Anerkennung führen muss: „Dulden heißt beleidigen.“ Doch um überhaupt erst einmal in die Verlegenheit zu kommen, andere Menschen und ihre Meinungen tolerieren und schließlich anerkennen zu können, muss ich mich zunächst damit befassen. Ohne Auseinandersetzung keine Akzeptanz.

Filterblasen im Netz
Man könnte denken, das Internet mit seinen schier unendlichen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Austausches mit Anderen sei der ideale Nährboden, um sich mit abweichenden Meinungen zu befassen und tolerante Überzeugungen zu kultivieren. Doch weit gefehlt. Durch Algorithmen und personalisierte Suche wird uns häufig nur noch das angezeigt, was ohnehin in unser Weltbild passt. Mit fremden Überzeugungen kommen viele Menschen online gar nicht mehr in Berührung. Der amerikanische Autor Eli Pariser definiert diese Filterblasen als das „persönliche Informationsuniversum, das Sie online bewohnen – einzigartig und nur für Sie aufgebaut von den personalisierten Filtern, die das Web jetzt antreiben.“ Der Effekt ist letztlich nicht viel anders als das, was Elisabeth Noelle-Neumann schon vor Jahrzehnten als Schweigespirale beschrieben hat. Die Meinung einer lauten Minderheit erscheint plötzlich wie die Mehrheit, andere Stimmen trauen sich nicht mehr an die Öffentlichkeit. Durch das Internet, insbesondere die sozialen Medien, erhält diese Tendenz jedoch eine viel stärkere Dynamik. Gerüchte und Verschwörungstheorien erhalten Futter, die Zahl der Hasskommentare steigt, Intoleranz greift um sich.

Toleranz der Intoleranten?
Bleibt die Frage, bis zu welchem Punkt eine offene und demokratische Gesellschaft verpflichtet ist, auch die Intoleranten zu tolerieren. Gerade in Bezug auf extremistische Positionen jeder Couleur wird dieser Aspekt immer wieder diskutiert. Müssen wir zum Beispiel in Deutschland Parteien wie die NPD, die – vorsichtig formuliert – offenkundig intolerant gegenüber allem ist, was nicht in ihr Weltbild passt, tolerieren? Auch in dieser Frage gibt es keine allgemeingültige Lösung. Grenzziehungen werden und müssen immer wieder Gegenstand argumentativer Auseinandersetzung und letztlich juristischer Bestimmungen sein. Es gilt, weder mit Kanonen auf Fruchtfliegen zu feuern, noch in gänzlicher Untätigkeit der eigenen Abschaffung zuzuschauen. Zum Abschluss halten wir es daher mit Jan Hedde, der seine sehr lesenswerte Abhandlung zum Begriff der Toleranz mit den Worten endet: „Toleranz ist, wenn’s weh tut.“ In diesem Sinne: Streiten Sie weiter!