Von einigen Kulturpessimisten und Reaktionären einmal abgesehen, ist für viele Menschen heute klar: Fortschritt ist etwas Positives. Ob in der technischen, politischen, ökonomischen oder gesellschaftlich-sozialen Sphäre – die Entwicklungen der letzten Jahrhunderte haben dem Menschen stetig neue Räume eröffnet. Das Rad, der Buchdruck, das Internet – aber auch Sozialgesetze, das Ende der Sklaverei, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Die Schlagzahl, mit der Fortschritt gerade im Bereich Digitalisierung realisiert wird, steigt dabei scheinbar immer weiter an. Gesellschaftlicher Fortschritt hingegen kann auch im Jahre 2017 durchaus noch als das Bohren dicker Bretter erachtet werden. Aber wie kommt „Fortschritt“ eigentlich zustande?
Fortschritt gehört zum Leben wie Ernie zu Bert
Die brillante Schriftstellerin und Kulturhistorikerin Rebecca Solnit weist in ihren Werken auf so viele, in unserem Kontext jedoch mindestens zwei höchst bemerkenswerte Dinge hin. Erstens: Auch in Zeiten von Krisen, Katastrophen und Terror ist eine Veränderung hin zu mehr Freiheit, Menschlichkeit und Demokratie möglich. Oder um mit Solnits Buchtitel zu sprechen: Auch in der Dunkelheit gibt es Hoffnung. Zweitens: Fortschritt vollzieht sich häufig im Verborgenen, in langsamen, kleinen Schritten – nur selten als großartige Explosion, die alles von einem auf den anderen Tag verändert. Bei politischen Reformen ist uns dieses Schneckentempo wohl vertraut – doch auch technologischer Fortschritt ist entgegen weit verbreiteter Annahmen meist nicht der Geniestreich eines Einzelnen. Thomas Alva Edison gilt als Erfinder der Glühlampe. Aber schon etliche Tüftler vor ihm habe die Basis geschaffen, die er schließlich zur Eintragung seines Patents nutzen konnte. Das Telefon haben wir Alexander Graham Bell zu verdanken – doch der erste telefonisch übermittelte Satz geht bereits 15 Jahre zuvor auf den deutschen Mathe-Lehrer Philipp Reis zurück. Der springende Punkt: am Beginn jeden Fortschritts steht ein kleiner Funke – wirkmächtig wird dieser Fortschritt jedoch erst durch Auseinandersetzung, durch Rede und Gegenrede, durch Widerspruch, Kritik, Konflikt und Kommunikation.
Wann immer irgendwo radikal neue – und manchmal auch nicht so neue – Ideen auftauchen, provozieren sie zumeist Widerspruch und Streit. Das ist gut so. Eine Idee wird durch Diskussionen geschärft und vorangebracht – in einzelnen Fällen jedoch auch beerdigt.
Sag beim Abschied leise Servus
Nicht alles, worüber gestritten wird, ist eine wegweisende Idee, die unbedingt in die Tat umgesetzt werden sollte – manche Ideen gehören auch einfach auf den Müll. Zum Beispiel Aufstrich mit Brotgeschmack. Oder die Ohrentrompete von Russel E. Oakes, die es möglich macht, Gespräche hinter dem eigenen Rücken zu belauschen. Das gilt nicht nur für absurde Alltagserfindungen, sondern auch für den einen oder anderen wissenschaftlichen Geistesblitz. Für sein Werk „Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand?“ bat der Amerikaner John Brockman rund 170 Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachgebieten um ihre entsprechende Einschätzung. Der Gedanke dahinter: „Nur wenige wirklich neue Ideen werden entwickelt, ohne dass man zuerst ältere aufgibt.“ Manchmal entsteht Fortschritt eben auch durch Loslassen.
* Das Zitat in der Überschrift wird – nach Meinung mancher zu Unrecht – Erich Honecker, dem langjährigen Generalsekretär des Zentralkomitees der SED in der DDR, zugeschrieben.